Folge 53

Vorweg

Ich bin gerade in Hamburg, war bei der Geburtstagsparty einer sehr netten Person aus der nicht zu Unrecht als Phänomen kritisch gesehenen »Litbubble«. (Wenn man davon ausgeht, dass es viele Litbubbles gibt, geht es auch gleich wieder.) Wir kannten uns vorher kaum, aber das ist ja bei Internetbekanntschaften noch nie ein Problem gewesen. Bei dem Fest waren so einige Schriftsteller*innen, die ich nicht persönlich kannte, und das war schön, weil ziemlich schnell sehr offen über Vieles gesprochen wurde, auch darüber, wie sehr wir Anwesenden es genießen, dass man jetzt so viel offener über Vieles spricht.

Stimmungsbild

Den ersten Teil des Abends saß ich, weil ich nur eine anwesende Person nennenswert gut kannte, bei Schulfreund*innen der Gastgeberin. Es stellte sich heraus, dass die eine Person einen Podcast über Limonaden macht – zum Spaß, nicht beruflich. Ich bin vermutlich ab morgen die 39. Followerin, vielleicht interessiert ihr euch ja auch für Limonade. (Ist aber ohne Gewähr, ich habe noch nichts angehört.)

Die DJ-Person machte ihre Arbeit gut, und nach etwa drei Songs hüftstarrem Gewackel hatte ich dann den in Folge 52 beschriebenen deutschen Stock im Arsch überwunden und tanzte wirklich. – Es ist harte Arbeit, sozial und im Selbstgefühl halbwegs locker zu bleiben.
 

Etwas Altes: Flix-Zug

Obwohl ich an manchen Stellen große Summen verballere (Verlegen), bin ich ansonsten eher zurückhaltend beim Geldausgeben. Bei innerdeutschen Reisen, die ich allein und nur zum Spaß mache, nehme ich meist den Fernbus, weil er so unglaublich billig ist und ich, solange ich WLAN und Kopfhörer habe, Busfahren mag. Ab und zu buche ich auch ein Ticket für den ebenfalls sehr billigen FLIX-Zug, obwohl ich Zugfahren hasse. Ich hasse auch das Fahren mit dem FLIX-Zug, aber dabei habe ich wenigstens interessante Assoziationen. Reisen mit dem FLIX-Zug ist Zeitreisen, obwohl man in der Gegenwart bleibt. Man muss nur einen Zug erwischen, dessen Waggons aus einer Epoche stammen, in der man noch sehr jung war. Bei mir war das glücklicherweise bei meiner allerersten FLIX-Zugfahrt der Fall, und so fuhr ich gleichzeitig 2021 nach München und 1981 am Mittelrhein zur Schule. Das nicht automatische Öffnen der Türen, die Geräusche beim Zuklappen der Fenster und das Rauschen des Fahrtwinds, es war magic. So extrem ist die Wirkung jetzt nicht mehr, aber einen kleinen Zeitrausch gibt es trotzdem immer noch.

Sicherheitshinweis: Retro-Momente hui, Retro-Zeiten pfui.

Etwas Neues: 9-Euro-Ticket

Um mich herum kaufen alle das 9-Euro-Ticket, und die positiven Konsequenzen greifen sofort. Junge Erwachsene laufen nicht mehr kleinkriminell vor Kontrollierenden weg und müssen sich von Eltern nicht mehr ungefähr alle drei Monate sechzig Euro leihen, wenn sie nicht wegrennen konnten. Autor*innen können, wenn ich ihnen einen Schlafplatz bei mir anbiete, aus ganz Deutschland für eine Konferenz gecastet werden, die in Berlin stattfindet und für die es kein Reisebudget gibt. Ich selbst muss nur noch darauf achten, dass mein Handy Akku hat, kann dann aber bei jeder beliebigen innerdeutschen Reise vor Ort in die Bahn hüpfen, ohne stundenlang zu recherchieren, welche Art Ticket ich nun brauche. Ich liebe es.

Meine Hoffnung ist, dass diese fiesen »Ich gebe bettelnden Menschen kein Geld, weil sie sowieso nur Drogen kaufen«-Personen jetzt mit Savior-Miene Tickets kaufen und verteilen. Selbst das wäre eine Verbesserung.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Manchmal muss man etwas viele Male erfahren, bis man es weiß. Manchmal vergisst man und erinnert sich dann. Und vergisst und erinnert sich. Und vergisst wieder.« ––– Maggie Nelson, Die Argonauten

Etwas Uncooles: Trend-Simulacrum Alkohol to go

Früher kamen privilegierte Menschen nach Deutschland, um sich einen Porsche zu mieten und mit 200 km/h über die Autobahn zu brettern. Sie taten dies, weil die Gesetzeslage in ihren Heimatländern dies nicht erlaubte. (Vermutlich tun sie es auch noch heute, ich kenne nur keine US-Amerikaner Mitte 20 mehr.) Heute reisen sie an, um mit einer Bierflasche in der Hand durch Berlin zu spazieren. Sie tun dies, weil die Gesetzeslage in ihren Heimatländern dies nicht erlaubt. Allerdings durfte man in den USA auch in den 1990ern schon nicht mit einer Bierflasche in der Hand rumspazieren, in Berlin aber schon. Man tat es nur nicht. Oder zumindest taten es nicht Großteile der Berliner Residents 24/7.

Auf dem Weg zum Zug am Samstagmorgen kamen mir ununterbrochen Menschen mit Alkoholflaschen in der Hand entgegen, oft nicht mal nur eine Bier-, sondern gleich eine Sekt- oder Weinflasche pro Person. Auffällig ist, dass Alkohol to go praktisch immer mit einem Gestus des »Ich genieße meine Freiheit« herumgetragen und konsumiert wird. Das ist bei volljährigen Personen mit deutschem Pass, die immer noch die größte Gruppe der Menschen mit Alkoholflasche in der Hand darstellen – wenn man die zugegebenermaßen nicht komplett wissenschaftliche Methode der Zuordnung nach Sprache und Looks veranschlagt –, ein bisschen absurd, denn es ist ja erlaubt.
Meine Vermutung ist, dass seit ungefähr zehn, fünfzehn Jahren deutsche Staatsbürger*innen, für die Saufen in der Öffentlichkeit faktisch erlaubt ist und dadurch normal sein müsste, so tun, als wäre es ein bisschen verrucht oder gar verboten, weil sie internationale cool people nachahmen, die in Berlin ihr Glück nicht fassen können, öffentlich saufen zu dürfen und es deswegen extra auffällig performen und dann in sozialen Medien dokumentieren. Das Ganze halte ich für einen Nebeneffekt der Start-upisierung Berlins. Als früher nur Tourist*innen, Künstler*innen, Studierende aus den USA kamen, gab es diesen Effekt noch nicht. Ein bisschen so wie mit Halloween und gutem Kaffee, die auch aus Europa gekommen und dann amerikanisiert »wie neu« re-importiert worden sind.

Bitte gern merken, dass man einem uncoolen Cool anhängt und die Flasche einfach in der Tasche lassen, bis man am Partyort angekommen ist. Dann können alle Menschen, die sich in Deutschland in der Öffentlichkeit bewegen, selbst bestimmen, wann für sie Party ist und wann nicht. Außerdem ist es bestimmt gut für die Leber, wenn man wenigstens auf dem Weg nicht säuft, viellcht sterben so ein paar jetzt junge Menschen weniger in dreißig Jahren an einer Leberzirrhose. Und weniger Suff bedeutet auch weniger Gewalt. Just thinking.

Rubrikloses

Wenn man mal von der oft menschenfressenden Perspektive von People-Journalismus absieht und einfach nur die sprachliche Darstellung auf sich wirken lässt, ist das im Prinzip hermeneutisches ASMR. Ich liebe solche mit dekadenten Quatsch-Informationen überfrachteten Sätze.
Nachdem die zu 70 % promovierten und zu 100 % mit einem schönen Erbe ausgestatteten Mitglieder der Baugruppe eudaimonía sich nach 14 Sitzungen endlich auf die Fassadenfarbe Denk-Grau geeinigt hatten, mussten sie feststellen, dass sie vergessen hatten, das Reale einzuplanen.
Warum denkt man bei Zimmer mit Aussicht immer schöne Aussicht mit, obwohl es oft keine ist? (Diese hier ist immerhin interessant.)
Kurios: Vor 40 Jahren gehörte ein unerwarteter Anruf noch plausibel zur Vorstellung von Glück dazu. Heute ist das Gegenteil der Fall. #KulturImWandel
 
Ja, richtig, ich bin die Person, die euch seit fünf Jahren überall im Internet erklärt, dass ihr Clickbait widerstehen könnt/sollt/müsst. Aber ich bin auch nur ein schwacher Mensch und ... habe es vollkommen verdient, dass sich das zeitaufwändige Durchklicken durch die millionenteilige Galerie natürlich null gelohnt hat, außer für die Seitenbetreibenden. #EndClickbait
 

Internet-Einkaufsbummel mit Frau Frohmann

Nein.
Nein.
Beim besten Willen nicht.
Nachfolgend zwei Beispiele aus derselben Quelle, die zeigen, wie offensichtlich angenommen wird, dass Marketingbullshit für extrem teure Waren ungeahnte Höhen erreichen muss, aaaaaarg, was für ein schlimmer Quatsch. Da möchte man doch gleich mit dem brillantenbesetzten Flammenwerfer losziehen.

 
 
 

Guerlica: Präraffaelitische Girls erklären Megalomilliardäre, Vol. 5

Zurück zum Fachkräftemangel, zum Fach Kräftemangel, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

Bitte abonniert New Frohmanntic, auch wenn ihr lieber im Browser lest, der Link zur neuen Folge ist ab nächster Woche immer gleich oben in der Mail. Und empfehlt den Newsletter ab und zu weiter, damit mit der Zeit noch ein paar mehr Zahl-Abos zusammenkommen, diese helfen massiv dabei mit, mich als Autorin und Verlegerin am Leben zu halten. Tätige Liebe in Zeiten des Kapitalismus, ihr wisst schon.
 

Werbung mit Nutzwert

Wenn ihr demnächst in Deutschland campen geht, packt besser Kein-Nazi-Tasse oder -Shirt ein, das erspart unnötige Unangenehmgespräche mit rechten Knilchen aus dem Nachbarzelt.