Hybrid Berlin

Lange Zeit kam nach Berlin, wem etwas nicht passte oder wer selbst nicht passte. Menschen, die nicht zur Bundeswehr oder keine Lehrstelle bei der Kreissparkasse wollten. Queere Menschen. Vielfältig „missratene Kinder“ von bürgerlichen Eltern, die sich ihren Nachwuchs ganz anders vorgestellt hatten, konventioneller, normaler, halt so, „wie es sich gehört“ und wie es „richtig“ ist. Neben den offiziellen Problembären kamen auch die nach Berlin, denen Hochzeit, Hausbau und Kinderzeugen nicht erstrebenswert erschienen, weil sie sich nach etwas anderem sehnten, nach anderer Musik, anderen Drogen, anderen Menschen.

Im schrecklichen Sinne einer Sibylle Lewitscharoff wären all diese Neuberliner permanente oder temporäre „Halbwesen“, also keine vollwertigen Menschen. Tatsächlich ist diese Meinung sogar in gewisser Weise kongruent mit dem Selbstbild der Genannten, weil diese sich am Ursprungsort ja selbst „nicht richtig“ fühlten, „nicht Fisch nicht Fleisch“, „nichts Halbes und nichts Ganzes“, „zwischen den Stühlen“.

Das Gute ist, dass sich dieses gefühlte Defizit in der ästhetischen Atmosphäre Berlins in eine positive Qualität verwandelt. Berlin liebt Halbwesen und Hybrides, weil Berlin selbst eine Zwischenwelt ist, in der die Nacht zum Tag gemacht wird, Geschlechtergrenzen verschwimmen, und der Rausch erhebliche Realität besitzt. Dies äußert sich nicht zuletzt in hybriden Styles. Im Bademantel zum Späti und im Glitzerfummel zu Aldi? Kein Problem. In Berlin darf man vestimentär alles und diese Freiheit wird nach allen Regeln des Unschicks genutzt. Klassisch schön ist das meist nicht, aber Freiheit ist eben anders schön.

Durch den steten Zufluss schräger Gestalten, die überall sonst als unpassend empfunden worden wären, wurde Berlin zur untypischsten deutschen Stadt überhaupt. Das galt in den 1920ern und wieder seit den 1960ern, das traf auf Berlin zu, dann auf West- und Ostberlin, das trifft jetzt wieder auf Berlin zu.

Dies rührt auch daher, dass viele zugezogene Hybridmenschen erhebliche Mengen lange zurückgehaltener Energie im Gepäck hatten, Energie, die sich nun entladen konnte, oft explosionsartig: in Kreativität, in Rausch, manchmal auch in Aggression. Der 1. Mai ist über Jahrzehnte hinweg der performativ höchste Feiertag Berlins gewesen, weil er die vielen individuellen Energieentladungen gebündelt, ritualisiert und im Kollektiv erfahrbar gemacht hat. Berlin ist eine brennende Stadt, auch wenn keine Autos in Flammen stehen. Es brennt, weil die Menschen hier brennen, inwendig – nicht alle natürlich, aber wenn man den kreativen Output betrachtet, sind es doch ziemlich viele. Das ist es, was die Leute nach Berlin zieht, das ist es, woran sie, solange sie hier sind, mitwirken und das ist es, womit sie selbst die nächsten brennenden Menschen nach Berlin holen. Manche verbrennen auch an den Drogen oder anderen Berliner Intensitäten, andere erlöschen, besinnen sich und kehren geschwind nach Hause zurück. Sie gehen nach Früher, wo sie nun doch irgendwie passen. Berlin war nicht das Richtige, sagen sie. Sie waren nicht die Richtigen, sagt Berlin. Sie haben alle Recht.

Es gibt weltweit sehr viele Menschen, die sich mit Berlin identifizieren, mitunter noch, bevor sie das erste Mal hier gewesen sind. Nicht nur deswegen ist es sinnlos, auf verblassenden Schildern an der Stadtgrenze Be Berlin zu fordern, denn nichts ist unnötiger und nichts passt weniger zu Berlin als eine Imagekampagne. Berlin kümmert sich selbst ganz hervorragend um sein Image. Es hat heimliche Markenbotschafter,*innen die man sich besser nicht ausdenken könnte. Sie heißen Christiane F. und David Bowie. – Sind wir nicht alle mit der coolen Clique, begleitet von „Heroes“ durchs Europa-Center gerannt?

Aber, aufgepasst, future Berliners. Die Christiane F., die ihr im Satinblouson und mit dünnen Herobeinchen re-enacten wollt, die gab es gar nicht, die ist ein Medienimage. Auch David Bowie lebt nicht mehr in Berlin, und zwar nicht erst seit seinem Tod. – Leider ist es nötig, dies auszusprechen, denn Manhattaner Neuberliner auf Drogen-Come-down greinen tatsächlich in der U-Bahn: „Where are the David Bowies today?“ Ich habe es selbst erlebt.

Die Unpassenden und Brennenden zieht es immer noch nach Berlin, weil die Stadt nach wie vor ein vergleichsweise freier Ort ist. Anders als früher, ist Berlin dank niedriger Immobilienpreise heute aber auch ein Ort, um Geld zu machen und zu investieren. Die beiden prominentesten Gruppen von Neuberliner*innen sind die mehr oder weniger jungen Familien aus dem süddeutschen Raum, genannt „die Schwaben“ und die internationale „Start-up-Szene“. Die englischsprachige Community fühlt sich nicht nur wegen der günstigen Gewerbemieten so wohl in Berlin, sondern auch weil die Stadt in ihrem undeutschen Sonderstatus, mit ihren anderen Menschen, ihrer anderen Musik und ihren anderen Drogen atmosphärisch New York und San Francisco ähnelt, die ihrerseits ‚untypisch USA‘ sind. (Wenn da nur nicht die lästigen Deutschen wären, aber das ist ein anderes Thema.)

Die „Schwaben“ und die „Start-up-Szene“ haben eine ganz neue Form der Andersheit nach Berlin gebracht, die von alternden Punks und Ravern sehr kritisch beäugt wird. Das neue Berlin scheint ihnen allzu gleichmacherisch, glatt und unanders zu sein. „All diese Hornbrillen, Strickjacken, teuren Sneakers, Dutts und Bärte. Doppelgänger ohne jeden ästhetischen Eigensinn. Wir waren da ja noch ganz anders und haben, es gab ja nichts Krasses zu kaufen, alles selbst gemacht. DIY, das kennen die doch gar nicht mehr. Tragen alle den gleichen langweiligen Kram der Stange.“ So hört man sie klagen, die Hüter*innen kreativer Andersheit, die sich damit, ohne es zu wollen, performativ als neues gegenkulturkonservatives Establishment entpuppen.

Man kann es ihnen aber auch irgendwie nachfühlen, denn plötzlich sind da Styles, ist da ein Lifestyle angeblich „typisch Berlin“, der als Outsider*innen nicht mehr wie früher „die da in Westdeutschland“ ausmacht, sondern „die damals vor dem Netz", denn Berlin liegt heute, wenn man aus einer bestimmten Perspektive beobachtet, nicht mehr in Deutschland und auch nicht mehr in Europa, sondern im Internet. Die Styles seiner transnationalen Bevölkerung sind die digitalglobal akzeptierten. Man trägt und ist Preppyhipsternormcorenerd, gern einen Hauch runtergekommen, Letzteres vielleicht doch eine Minimalanklammerung ans klassische Berlin-Image – alles Ansichtssache.

 

Zuerst veröffentlicht in: Christiane Frohmann (Hg.), Berlin Unschick, 2014.