Folge 58

(Sehr) vorweg

Ab nächster Woche füge ich dem NewFrohmanntic eine jeweils vervollständigte Liste neuer Worte bei. Außerdem gibt es zumindest für eine Weile gezeichnete Cover, die Bilder entnehme ich meiner Reihe Prägebilder. Auch noch neu: Ich habe ein weiteres »Phantom-Meme«* begonnen, das ich jetzt bewusst hier im Newsletter weiterentwickle. Ihr bekommt neue »Erscheinungen«* zuerst zu sehen, später wird es ein Buch. Es hat mit Schlüsselfragen in Märchen zu tun. Das mit der Altersarmut ist das erste, heute aktualisierte Beispiel. (Der Ursprungstweet damit ist schon einige Jahre alt.)

Ich würde mich sehr freuen, mein Märchenmeme nicht demnächst so ähnlich in Onlineauftritten von Comedyshows oder Altmedien zu sehen und auch nicht ungefragt als »Netzfund« ohne Urheberin upcyclet, lieben Dank, I trust you.

* So bezeichne ich meine Arbeit selbst, liebe Litwisser*innen. Phantom-Memes bezeichnet das Konzept, Erscheinung die einzelne Bildtextkombination.

Etwas neues Altes: Social-Media-Archive

Früher hatten Archive meist selten mit einem selbst zu tun und waren eher Orte, an die man ging, um Nachforschungen über lange zurückliegende Ereignisse oder tote Personen anzustellen. (Philosophische Zwischenfrage: Sind Tote zurückliegende Ereignisse?) Heute haben zumindest Personen, die Social Media nicht einfach so, sondern reflektiert oder sogar professionell nutzen, Archive ihrer Posts. Ich persönlich lade meine Archive nicht regelmäßig runter, sondern fast immer in Panik, wenn ich entweder mal wieder mich auf einer bestimmten Plattform löschen will oder befürchte, dass diese Plattform im Sterbeprozess angekommen ist und vielleicht bald implodiert. Es gibt aber auch gelassenere Begegnungen mit den Archiven, etwa wenn man nach einem bestimmten Post sucht, an den man jetzt gedanklich wieder anknüpfen möchte. Oder man öffnet in Verzettelungslaune ein irgendwann panisch heruntergeladenes Archiv und stellt fest, dass es beim Durchscrollen eine vergleichbare Wirkung entfaltet wie die Kiste mit alten Fotos oder Briefen, die man »nur ganz kurz« beim Aufräumen öffnen wollte. Plötzlich befindet man sich im eigenen Leben wie in einem anderen. Längst Vergessenes oder aus der Rückschau gänzlich anders Erscheinendes ziehen an einem vorüber und nehmen einen mit: mental, emotional. Natürlich kann man da auch unangenehmen Erinnerungen begegnen, aber meist ist es schön. Vor allem wirkt da alles, wie Frohmann-Autor Christoph Rauscher es in einem Tweet beschreibt, erstaunlich ordentlich.

Ist das nicht ein schöner Effekt, dass ausgerechnet unsere mit dem geächteten Smartphone ausgeübte, geächtete Social-Media-Nutzung uns zu einer Art Proust unserer selbst werden lässt, der in der TL der Vergangenheit flaniert und dort zwar nicht die verlorene, aber die schon damals auf neue Weise erlebte
und nicht erlebte – instantane – Zeit finden lässt? (Ja, ist es.)

Darüber werde ich noch mal länger nachdenken, falls ich nicht durch fortwährendes Posten und zwischendurch durchs Archiv Scrollen davon abgehalten werde.

Etwas Geliehenes: Ein Zitat

»Der Verlust der Berührung mit der Wirklichkeit ist das Böse.« – Simone Weil, Schwerkraft und Gnade

Etwas Neues: Prozentrechnung lernen mit Instagram

Ein Vorschlag für Lehrer*innen, vielleicht seid ihr aber auch selbst schon auf die Idee gekommen. Instagram ist jetzt gerade, aber eigentlich immer komplett voll mit Brand-Werbungen für Sales, bei denen Rabatte von bis zu 60 % angeboten werden. Ich stelle mir vor, dass man den Matheunterricht sehr positiv emotionalisieren könnte, indem man jede Person in der Klasse sich Lieblingsmarken und -produkte aussuchen und dann damit rechnen ließe.

Wie viel Prozent Rabatt bräuchtest du, damit das Produkt einen Preis hätte, den du angemessen findest?

Dann ist der Kapitalismus wenigstens mal für was gut. Und ihr lernt ganz nebenbei, welche Marken gerade angesagt sind, was gut gegen vorzeitige Verboomerung ist.

Etwas Uncooles: Tiere verschenken

Aktuell ist ja modern, dass Influencer*innen, die mit Filtern, OPs und geschickten Bildausschnitten ein paar 100k Follows eingesammelt haben – wogegen ich ausdrücklich nichts habe –, erklären, dass man zu sich stehen soll, wie man ist. Finde ich grundsätzlich gut, allerdings würde ich mich freuen, wenn die Kohle und der Fame für diese Supererkenntnis zur Abwechslung mal von anderen eingestrichen würde, etwa von Leuten, die nicht auch ohne Filter meganormschön sind oder normschön oder norm-okay.

Außerdem sage ich es gleich, ja, kündigt nur den Newsletter, geht zu den Ehrlichkeits-Influencer*innen:
Ich werde den Brise-Filter auch weiterhin über meine Bilder legen, wann immer diese für meinen Geschmack zu viel Rotstich haben, auch wenn es bedeutet, dass ich niemals 10k auf Insta erreichen werde.

Ich habe nichts gegen ein paar Filter und Concealer, aber ich habe auch nie verschwiegen, dass ich Erstere ab und zu und Letzteren notgedrungen ( ist so!) immer benutze. Und ich beschreibe regelmäßig persönliche Unsicherheiten und Schwächen, damit andere Menschen, die mitlesen und zusehen, nicht unnötig gefrustet sind, weil sie denken, man würde unberührt vom Dunkel lalalalala vor sich hinleuchten. Am öffentlich wichtigsten ist mir, einzugestehen, wenn ich falsch gedacht, kommuniziert, gehandelt habe, weil mich das Umsehenlernen(müssen) genauso betrifft wie alle: Öffentlichkeit, mittelgroße Accounts, relative Vorbildfunktion = Publishing ist Verantwortung.

Im Folgenden ein sehr trauriges Beispiel falschen Denkens, Kommunizierens und Handelns. Die kein bisschen glamouröse villainesse: ich.

Ungefähr 2005 haben mein Mann und ich eine Schuld auf uns geladen, die uns so sehr belastet, dass die Erinnerung daran nur alle paar Jahre hochkommt, zuletzt heute. Freund*innen von uns heirateten damals, sehr liebe Menschen, eine große, unglaublich herzliche Familie. Wir wollten ihnen ein ganz besonderes, ein unvergessliches Geschenk machen: Laufenten, denn Laufenten sind ultracute, sie sehen aus wie wandelnde, nicht aufgeklappte Regenschirme, und ihr Leben in einem Haus mit schönem Garten, aber vielen Nacktschnecken schrie, so fanden wir, nach Laufenten. Damals war ich auch schon nicht ganz frei von einem unguten Gefühl, Lebewesen zu verschenken, heute würde ich es niemals mehr machen, und zwar aus Einsicht und nicht aus Angst davor, »gecancelt« zu werden.

Die Organisation des Geschenks war aufwendig, die meiste Arbeit erledigte mein Mann: eine Fahrt von Berlin nach Leipzig zum Laufentenzüchter, viele Gänge zum Baumarkt, das Bauen eines Stalls, das Anstreichen mit helltürkiser Farbe – die Freundin strich damals selbst auch alles in Helltürkis an. Am Schluss fehlte nur noch ein kleiner Haken, um den Stall zu verschließen, den würden wir morgen auf dem Weg zur Hochzeit besorgen.

Am Tag der Hochzeit waren wir wie immer viel zu spät dran, ach, den Haken besorgen wir morgen, die Tür kann man ja anlehnen, kommen wir halt nach dem Baumarkt noch mal zum Resteessen vorbei.

Braut und Bräutigam waren ein bisschen erschrocken über das in Teilen lebendige Geschenk, aber ich glaube, sie freuten sich, die Freundin schon allein deshalb, weil der helltürkise Stall super in den Garten passte.

Am nächsten Morgen stand der Stall offen, und im Innern fand man nur noch blutiges Stroh.

Wir hatten zwei Erwachsenen und drei Kindern das schrecklichste Geschenk der Welt gemacht: ein Trauma. Und wir hatten, die Braut liebte
Die Ärzte, Bela und Farin auf dem Gewissen, zwei ultracute, komplett hilflose Laufenten.

Sich heute tapfer zu coolen Verfehlungen der Vergangenheit zu bekennen, ändert sachlich leider nichts. Vielleicht ist es wenigstens besser als nichts.

Es tut mir immer noch so schrecklich leid, Bela und Farin. Eure Entennamen weiß ich ja leider nicht.
Symbolbild

Rubrikloses

Heute war wieder ganz schlimmer Clickbait auf Twitter: Eine rechte Konferenz in den USA, die von Linken und Jedenfallsnichtrechten weltweit gratis beworben wurde. Dann so fluffiges Social-Media-Geplänkel in deutscher Sprache von Elon mit dem Rest der Welt – Leute, bitte, hört auf mit ätzenden Megalonären zu interagieren, nur weil ihr auch Deutsch könnt. Macht das nicht. Postet eigenen guten Kram und teilt schöne, demokratiestärkende sowie schlimme, dringliche, ebenfalls demokratiestärkende Inhalte. Seht an den Clowns vorbei, nur so bekommt ihr dieses Netz zurück, das ja schon mal ganz brauchbar und schön war.

Elon ist ja mein Hasslings-Multimilliardär, ihn halte ich für am gefährlichsten. Bitte redet nicht mit Elon (C-A-N-C-E-L-K-U-L-T-U-R-!!!), bald kann er euch nämlich dazu zwingen, zum Beispiel, indem er aus dem All eine Laserkanone auf euch richtet. Er hat noch multiple andere Supermöglichkeiten dazu. Olaf Scholz wird euch, wenn euch Elon erst mal auf dem Kieker hat, nicht helfen können, da bin ich ziemlich sicher.
Ein Text von der Webseite eines Auktionshauses. Ich mache mal kein Close Reading, sondern markiere nur die Stellen, bei denen mir besonders der Atem stockt.

»Friedrich Seidenstücker
tat sich in der Tristesse des Zweiten Weltkriegs immer schwerer, auf der Straße Motive zu finden. In Nazideutschland blieb wenig Raum für Freundlichkeit und Schalk. Ohne die Unterstützung seiner Familie wäre er einmal mehr vor dem Nichts gestanden, so aber konnte er sich zumindest in seine Zwei-Zimmer-Wohnung zurückziehen, wo er sich als Fotograf seiner zweiten großen Leidenschaft neben den Tieren widmete: Er lud sich junge Frauen ein, drapierte sie nackt neben seinen großen Kachelofen und fotografierte. Den Bildern haftet neben aller schamhaften Sinnlichkeit auch etwas Begeistert-Voyeuristisches an. Erst nach dem Krieg wagte sich Friedrich Seidenstücker mit seiner Kamera wieder nach draußen – und fand in den Ruinen der zerbombten Stadt wieder jene Spuren des Lebens, die er während der NS-Diktatur so schmerzlich vermisst hatte

Ja, korrekt, ich hätte auch einfach alles anstreichen können.

Seid ihr auch froh und erleichtert, dass in Deutschland endlich wieder viel Raum für Freundlichkeit und Schalk und historisch unverantwortliche Marketingscheiße ist? Und freut ihr euch ebenfalls, dass weitere Generationen mit dem Gefühl aufwachsen können, Tiere und Frauen bzw. Lebewesen und Objekte wären irgendwie der gleichen Ordnung zugehörig? Danke für nichts, Auktionshaus und Patriarchat.
 
Wie sehr mich das zerrüttet, dass man jetzt permanent in Instashops auf Sachen stößt, die unbezahlbar UND ausverkauft sind. Bin ich in einer Oligarch*innenbubble?
 
Ein Stück, für das ich (ironielose Stimme) in ein Musum einbrechen würde. Nehme auch gern Kopie.
 
Huch.
 
Antike Marketingtragödie: Am selben Tag treffen per Post zwei Karten mit Rabattcodes ein. Eine ist an den cis Mann des Hauses adressiert, seit jungen Jahren ein treuer Kunde des Unternehmens, er bekommt 15 %. Die andere Karte geht an die cis Frau des Hauses, sie hat irgendwann mal ein Geschenk für ihren Mann dort gekauft, das Unternehmen ist ihr gleichgültig, sie bekommt 20 %. Die Frau lacht, als der Mann voller Entsetzen mit beiden Karten in der Hand vor ihr erscheint. Er wird nie wieder bei dem Unternehmen kaufen.

Neue Worte für euch

Hassling, Nomen: Verhasstester, Verhassteste, Verhasstestes
Hasslings-, Präfix: verhasstester, verhassteste, verhasstestes

Salzigkeit/en,
Nomen: Gegenbegriff zu »Süßigkeit/en«, in die Welten gebracht von Sophie Weigand auf Twitter. Nutzt den Klick und folgt ihrem Account @Literatourismus, sofern ihr es noch nicht tut bzw. und überhaupt auf Twitter seid.

Verboomerung,
Nomen: unnötiges Ignorantwerden gegenüber sich verändernden Kulturen
verboomern, Verb: unnötig ignorant gegenüber sich verändernden Kulturen werden
verboomert, Adjektiv/Adverb: unnötig ignorant gegenüber sich verändernden Kulturen

– Bitte übernehmt alle neuen Ausdrücke in euren aktiven Wortschatz. Neue, sinnvolle Worte sind gut gegen Kulturkonservatismus, der gut für Nazis ist.
Wenn ihr am 20. und 21. August in Berlin seid, gönnt euch ein Gratisticket für die von mir kuratierte Konferenz Zwischen Konzept und Instantanem. Perspektiven digitaler Literatur in der Lettrétage. Mit Elisa Aseva, Hannes Bajohr, Lillian-Yvonne Bertram, Dana Cermane, Felicia Ewert, Lin Hierse, Julia Knaß, Jonathan Loeffelbein, Sibel Schick.

Präraffaelitische Girls erklären Megalonäre, Vol. 9

Zurück zu Imperator Elon, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann
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