Instantanes Schreiben

Im Internet gibt es den klassischen Leser nicht mehr, auch den klassischen Autor nicht, ebenso wenig wie den Verlag. Im Netz erscheinen Menschen als Lesende, Schreibende und Publizierende.

Das Schreiben, Lesen und Publizieren im Netz ist weniger vorsätzlich, es geschieht weniger bewusst und es ist weniger von ästhetischen und sozialen Regeln determiniert.

Aus einer klassisch-hermeneutischen Perspektive wird dieses neue Schreiben, Lesen und Publizieren mitunter als defizitär, weil substanz-, kontext- und verantwortungslos beschrieben. Man glaubt, mit der Digitalisierung ginge etwas kulturell Wesentliches verloren.

Betrachtet man das Netz aber als performativen Raum, in dem Schreibende, Lesende und Publizierende in Wirkungsschleifen verbundene gender- und altersentkoppelte Performer sind, zielt dieser Vorwurf ins Leere, denn dann wirkt dieses neue Schreiben, Lesen und Publizieren befreiend, zugänglich und verbindend, mit einem Wort: lebendig.

Das Netz ist, anders als ein Buch oder Sterbebett, kein passender Ort für letzte Worte, es ist der Raum für ständig zu aktualisierende Statusmeldungen.

Anders als „der Literaturbetrieb“ oder „die Buchbranche“ – beides gesetzte, pauschalisierende Begriffe – ist das Netz auch nicht der richtige Rahmen für bürgerliche Distinktion. Originalgenies müssen draußen bleiben, „Vor dem Gesetz. Das im Netz der Flow ist“; man muss oder darf gar nicht mehr alles rational verstehen wollen, um in diesen Flow einzutauchen.

Geschriebenes besteht aus in Schrift umformatierten mentalen Bildern, die beim Lesen wiederum in mentale Bilder umformatiert werden. Das neue Schreiben, Lesen und Publizieren macht es dem Gehirn angenehm leicht, denn eine geschriebene Facebookstatusmeldung oder ein Worttweet haben aufgrund ihres kontextlosen performativen Gestus mehr Ähnlichkeit mit einem geposteten Foto als mit einem gedruckten Buch.

Im Internet fließen, ja stürzen die klassischen literarischen Formen der Selbstkonstruktion und -darstellung wie Tagebuch, Brief oder Autobiografie, aber auch dokumentarisches und fiktionales Schreiben ineinander. Schriftwerdung als exklusive Fluchtbewegung ist obsolet geworden. Im Netz, zumindest da, wo es wirklich fließt, gibt es keine symbolische Ordnung; Inhalte bewegen sich, wirken aufeinander und verändern sich, so entsteht virtuelle Realität.

Da ist nichts, was man anfassen, nichts, was man rational vollständig und begrifflich fassen könnte. Deshalb werden so viele Hashtags benutzt, sie erfüllen die Funktion emotionsbegleiteter Vor-Begriffe, die stabil instabil mentalen Halt geben.

Aber da ‚ist‘ etwas, ein neues, hybrides Schönes und Gutes, kein hermeneutisch Wahres, aber ein performativ Wahrhaftiges, das sich höchst real anfühlt. Das virtuell Gute ist selbst ein virtuelles Gut: eine plausible Bewusstseinserweiterung, die sich im Idealfall auftut, während man dabei die Füße fest auf dem Boden der physischen Realität hat.

Beim instantanen Schreiben stellt man nicht dar, wer man ist oder gesellschaftlich determiniert sein solllte, eher schon performt man eine ständig aktualisierte Version seines Ideal-Ichs, unendliches „Selfie-Publishing“.

Ich poste Ich poste Ich poste.
Ich twittere Ich twittere Ich twittere.

 

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Foto: (c) Johanna Feil, @spaetabends

 

––– Verschriftlichung eines am 29. Mai 2015 am Literaturinstitut Leipzig gehaltenen Impulsreferats