Ein trauriger Tag, ein schönes Leben
Vom 13.8.2016
Heute wäre mein Vater 80 Jahre alt geworden, gestorben ist er allerdings schon vor langer Zeit mit 56. Die Umstände seines Todes waren tragisch, ein Blutsturz, bedingt durch eine Leberzirrhose, deren Grundlage er beim überforderten Stresssaufen in den 60ern gelegt hatte, als er ein ziemlich erfolgreicher Marktforscher mit einer sehr guten Geschäftsidee war, er gab damals, ein Novum, einen Trendbericht für Firmen heraus.
Bei meinem Vater ist vor einem halben Jahrhundert ziemlich viel abgelaufen, was heute in der Startup-Welt normal, aber nicht weniger ungesund ist: schneller Fame, sehr viel Geld, Studium schmeißen, bei immer höherem Arbeitsaufkommen die Kontrolle verlieren. So ein Spätsechziger-Mad-Men-Lifestyle sieht im Fernsehen besser aus, als er echten Menschen damals tat.
Statt Freund*innen hat man als erfolgreicher Jung-Entrepreneur damals wie heute zunehmend Schleimbacken um sich, mit denen man gegen den Druck und die Leere mehr und mehr Whisky trinken muss, weil man in Wirklichkeit eben doch nur ein netter Typ aus kleinen Verhältnissen ist, der gern im Garten arbeitet, Katzen mag und begeistert andere Menschen volllabert. (Ja, es gibt Ähnlichkeiten.)
Und so ging es mit Papas schickem Aufstiegs-Imperium rasend schnell den Bach wieder runter: Die vom Innenarchitekten designten Eicheneinbauten wurden abmontiert und vom eigenen Haus in Oberursel zunächst in ein Mietshaus und dann in eine kleine Mietwohnung in einem Vorort von Bad Homburg verbracht; mein Vater arbeitete fortan nur noch in bescheidenen Jobs, u. a. als Nachtportier in einem Gästehaus der Deutschen Bank, weil er aus irgendeinem bizarren Grund beschloss, so wenig zu verdienen, dass ihm die Gläubiger nichts wegnehmen könnten. Dabei waren die Schulden letztlich gar nicht so riesig: 30.000 Mark, heute Euro, hätten sich locker in zehn Jahren abzahlen lassen. Aber davon hielt ihn wohl ein Beleidigte-Leberwurst-Trigger ab, und der nichtsnutzige verletzte Stolz wurde bei ihm zur lebenslangen Blockade. Überraschenderweise wurde in dieser Situation meine sonst eher ängstliche Mutter tough, suchte sich einen Job als Sekretärin bei der Bank und sorgte von da an finanziell für die Familie. (Danke, Mama.)
Als ich knapp zwölf war, beschloss mein Vater, dass wir zu meiner pflegebedürftigen Oma an den Rhein ziehen würden. Meine Mutter blieb in Bad Homburg und besuchte uns an jedem zweiten Wochenende, irgendwann, da war ich aber schon erwachsen, ging sie nach München, von da an waren meine Eltern getrennt. Ausgesprochen wurde das kurioserweise nie, man telefonierte auch relativ freundlich miteinander und ich lernte: Eine Familie kann offiziell dysfunktional sein und man wächst trotzdem ganz gut in ihr auf.
Meine Mutter verschwand also aus dem Leben meines Vaters, und auch meine Oma starb irgendwann, ich aber blieb, wohl unterbewusst verstehend, dass sein Leben jetzt irgendwie an mir hing. Mein damaliger Freund sagte einmal zu mir: »Christiane, du bist viel unglücklicher über das Leben deines Vaters als er selbst.« Er hatte recht. Ich fuhr täglich mit dem Zug zur Uni nach Bonn und zurück, später zog ich dann zwar nach Bonn, fuhr aber weiterhin an den Wochenenden nach Hause. Einmal traf ich eine ehemalige Mitschülerin und sie erzählte mir feixend, mein Vater werde jetzt »der Einsiedler von R.« genannt. Meine Wangen glühten vor Scham und Demütigung.
Im Herbst 1992 zog ich nach Berlin, Weihnachten fuhr ich das erste Mal wieder nach Hause. Mir war immer bewusst gewesen, dass ich nicht wirklich für meinen Vater leben konnte, aber es war desolat: Fast alle Zimmer im Haus waren verschlossen, man konnte sich vorstellen, was für Müllberge sich hinter den Türen verbargen. Seine Katzen hatte mein Vater in einem Zimmer eingesperrt, er selbst war fahl im Gesicht, ihm fehlte jede Kraft. Ich fing an zu schluchzen, schrie ihn an, dass etwas passieren müsse, aber er winkte nur müde ab, versprach auf mein Drängen hin, nach meiner Abreise zum Arzt zu gehen. Eine Lüge, wir wussten es beide. Zwei Monate später war er tot.
Abgesehen von diesen letzten Wochen war mein Vater durchgehend ein zufriedener und glücklicher Mensch. Er führte ein selbstbestimmtes Leben und nahm sich das Recht heraus, wirtschaftlich und sozial nicht der Norm zu entsprechen. Als »Ernährer« der Familie war er eine Katastrophe, als MEIN VATER aber war mein Vater unschlagbar. Er hatte immer Zeit, immer Antworten, immer Geborgenheit und immer Zuversicht für mich. Ich verdanke ihm die kostbarsten Güter: dass ich kaum Angst habe, dass ich voller Vertrauen bin, dass ich lieben kann und Liebe zu mir nicht in Frage stelle, dass mich Geld nicht interessiert, dass ich ohne Therapien, Glücksratgeber und Drogen zufrieden LEBE, dass ich nicht nur am Leben, sondern lebendig bin.