Umsehen lernen: Die weiße Empathieblockade

Das berühmte Zitat der Schwarzen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde, »Die Werkzeuge des Herrn werden niemals das Haus des Herrn niederreißen«, ist selbst das Denken zerlegend, denn es hat die paradoxale Kraft, im eigenen Denken alles niederzureißen und dabei gleichzeitig die enttäuschende Erkenntnis zu vermitteln, nichtsdestotrotz im Haus des Herrn geblieben zu sein. – Wie soll eine Person denkend aus dem Haus des Herrn herauskommen, während sie Teil davon ist?

Umsehen lernen könnte einen Ausweg darstellen. Das Haus des Herrn, das System, das Denken anders sehen, andere Wirklichkeiten im System sehen, bis es aufhört, dieses System zu sein. Energie kann in Materie umgewandelt werden, Materie in Energie. Das Haus des Herrn wird nicht niedergerissen, sondern verschwindet: aus den Augen, aus dem Sinn, aus der Realität. An seiner Stelle erscheinen Menschen, die im Haus des Herrn unsichtbar waren, und sie werden es dann auch gewesen sein, die einem heraushelfen konnten. Audre Lorde etwa. Magisches Sehen.

Das Leben erscheint vielen Menschen in Mitteleuropa geradewie ein dystopischer Film im letzten Drittel. Überall auf der Welt brennt es, buchstäblich und symbolisch. Für weitaus mehr Menschen, für die Mehrheit der Menschen, ist das aber nichts Neues, sie wissen es schon sehr lange, zum Teil seit Jahrhunderten. Allerdings sind sie selbst zu nah an den Flammen gewesen, buchstäblich und symbolisch –möglicherweise sogar darin –, als dass ihnen diese ästhetisierte Wahrnehmung plausibel erscheinen könnte. Das Reale wie Kunst rezipieren zu können und zu wollen, erfordert Abstand, intellektuellen, emotionalen und auch physischen. Menschen möchten sich, wenn sie die Wahl haben, ja nicht wirklich verbrennen. Um sich das Leiden von Menschen, anderen Menschen, ästhetisiert vom Leib zu halten, braucht es eine kühle Distanziertheit, eine distanzierende Kühle.

Die Verletzung, die brennendes Mitgefühl mit leidenden Menschen bedeuten würde, wird gekühlt, nicht, nachdem sie, sondern bevor sie, damit sie nicht entsteht. Eine solche Coolness gegenüber leidenden Anderen und letztlich auch gegenüber sich selbst, steht Gewaltbetroffenen nicht offen. Das coole Empathieblocken beherrscht nur, wer die Wahl hat, menschliches Leid wahrzunehmen oder nicht. Auch das ist ein Privileg oder eine Lage von Privileg. Ausgerechnet die Personengruppen, die die Position der kolonialistischen Herrschaften wirtschaftlich und sozial beerben, können deshalb die bis heute gewalt- und schmerzvolle Wirklichkeit von Milliarden Menschen in »aller Herren Länder«, wie man früher im Deutschen gern sagte, erfolgreich ausblenden. Sie wissen davon nur etwas, wenn sie es wissen wollen.

Wissen hat, dies wird in dem Kontext deutlich, nicht allein mit Verfügbarkeit und Zugang zu tun, sondern auch damit, ob Personen dafür zugänglich gestimmt sind. Nun neigen aber Menschen, die von struktureller Ungerechtigkeit profitieren, egal, ob sie diese persönlich verantworten oder nur zulassen, stark zum Nichtwissenwollen. Ein bewusstes Nichtwissenwollen dessen, was, sachlich betrachtet, gewusst werden müsste, und, ethisch betrachtet, gewusst werden sollte, heißt Ignoranz. Es ist ärgerlich, dass diese Haltung in der Öffentlichkeit so selten richtig benannt wird, meist bezeichnen Menschen sie ableistisch als »Dummheit«. Das ist sogar doppelt ärgerlich, denn es ist unfair gegenüber allen Menschen, die vielleicht nicht intelligent sind, aber bereitwillig dazulernen, und es verharmlost die aggressive Wissensverweigerung vieler intelligenter Menschen. »Dummheit« ist kein ethisch bewertbarer Begriff, »Ignoranz« schon. Ignoranz lässt sich als vorsätzliches geistiges Wegsehen verstehen, dem ein klassisches Wegsehen vorausgeht: aus den Augen, aus dem Sinn, aus den Gedanken, aus den Gefühlen, aus der Vorstellung, »aus der Welt«: scheinbar inexistent. (Es kann nicht nur vorsätzlich weggesehen, sondern auch weggehört, weggegangen, weggelesen werden.) Ignoranz ist, ethisch betrachtet, eine a priori unterlassene Hilfeleistung, indem aus Eigennutz bewusst die persönliche Empathie für bestimmte Menschengruppen suspendiert wird. Im Falle der eingangs beschriebenen mitteleuropäischen Perspektive sind es zuallererst Weiße, die sich in die coole Distanz begeben. Sie haben es sich kulturell angewöhnt, menschliches Leiden, wo es BIPoC betrifft, nur ästhetisiert an sich heranzulassen. Hochproblematisch daran ist, dass sie nicht nur die brutalen Lebensverhältnisse von ihnen oder zu ihren Gunsten unterdrückter und ausgebeuteter Menschen, sondern den Subjektstatus dieser Menschen gleich mit »aus den Augen verloren haben«.

Die jahrhundertelang trainierte und erfolgreich praktizierte, rassistisch motivierte Verschiebung von individuellen Menschen, Subjekten, als diffusen Objektgruppen ins Imaginäre ist wissenschaftlich lange belegt, aber ohne dass sich dies spürbar im alltäglichen Umgang von Weißen mit BIPoC niederschlagen würde. Das Wissen darüber scheint in der Dominanzgesellschaft kaum präsent zu sein, vor allem wird es nur selten angewendet, wenn impulsive, vorbewusste Reaktionen erfolgen. Im Konflikt- oder auch nur Stressfall, das lässt sich oft beobachten,werden BIPoC von Weißen immer noch unvergleichlich respektlos behandelt, angeschnauzt, abgekanzelt, also keinesfalls auf Augenhöhe angesprochen. Weiße verhalten sich anderen Menschen gegenüber dann so, als wäre die bloße Begegnung mit ihnen eine Zumutung. Sie reagieren ethisch und auch sachlich unangemessen, weil ihnen tatsächlich etwas zugemutet wird, etwas Ungewohntes, das ihnen Unbehagen bereitet. Plötzlich werden sie von autonom auftretenden Menschen angesprochen, die sie bislang gewohnt waren, als Spielfiguren ihrer Imagination zu betrachten und zu beherrschen. Unbehagen aber verwechseln Menschen, die von struktureller Ungerechtigkeit persönlich nicht oder wenig betroffen sind, sehr oft mit ebendieser. Sie fühlen sich diskriminiert, ohne es zu sein. Aggressiv gehen sie dann auf ausgerechnet jene Menschen los, denen sie schon die ganze Zeit unbewusst den Subjektstatus verweigern – die äußerste, weil existenzielle Form struktureller Ungerechtigkeit. Impulsiv attackieren sie Personen, die wirklich strukturelle Gewalt erleben, und sie behandeln sie, als wäre deren für sie plötzlich wahrnehmbare Existenz eine böse Tat. Die eigene bösartige Ignoranz wird auf deren Leidtragende projiziert.

Wenn diese paradoxale Mental-Verdrehung der wirkenden Kausalzusammenhänge einsetzt, kommt es auch zu wirklich unheimlichen Momenten in »Debatten«, die die Bezeichnung nicht verdienen, weil manche Beteiligte nicht den Subjektstatus anderer Beteiligter anerkennen. Im Grunde sagen dann Menschen zu Menschen: »Dich gibt es gar nicht.« Gemeint ist: »Meine Wirklichkeit kollabiert, weil es dich als Subjekt gibt, obwohl ich dich doch als Objekt ins Imaginäre verschoben hatte.«

Während der großen Fluchtbewegung nach Europa, insbesondere 2015/16, wurden plötzlich Millionen von Weißen damit konfrontiert, dass es die namenlosen Figuren aus den Medienbildern über Kriege und Hungersnöte in aller Welt tatsächlich gibt, dass sie lebende Menschen sind, Subjekte, die durch ihre nun wahrnehmbare Existenz ethische Forderungen an sie als Mitmenschen stellten. – Was aber machen cool distanzierte Mitteleuropäer*innen, wenn plötzlich bei strahlendem Sonnenschein und vollem Bewusstsein nicht das Verdrängte, sondern die Verdrängten in ihrem Gesichtsfeld erscheinen? Es gibt dazu eindrückliche Medienbilder: Auf einem steigt ein geflüchteter Mensch direkt neben einer Person, die sich im Bikini auf einer Strandliege sonnt, aus dem Meer; auf einem anderen Bild klettern Flüchtende über einen sehr hohen Zaun, unter ihnen, auf perfektem englischen Rasen spielen andere Menschen Golf. Wenn durchschnittliche weiße Mitteleuropäer*innen vorher überhaupt je Ähnliches gesehen hatten, dann in Filmen oder Serien. Das Bild mit dem Zaun hat visuell einen starken The Walking Dead-Vibe – in der Serie rütteln sehr oft Untote an Zäunen –, und das Bild mit dem aus dem Wasser steigenden Menschen lässt an den Horrorfilm Poltergeist denken, wo Leichen aus einem Pool auftauchen. Nur dokumentieren diese Medienbilder jetzt reale Begebenheiten, und da kehren auch nicht Tote wieder, sondern Lebende haben ihren ersten Auftritt in der Realität anderer. In diesen Bildern und dieser Zeit verbinden sich bisher streng getrennt gehaltene Welten, keine »erste« und »dritte Welt«, sondern eine gesetzte und eine imaginisierte. (»Imaginisiert« soll heißen, dass es sich nicht um eine bloße Vorstellung handelt, sondern um Reales, das fälschlich wie Imagination behandelt wird.)

Plastikschlappen und Schlauchboote sind plötzlich gleichzeitig Symbol von Urlaub und Flucht, von Komfort und Entbehrung, von Privileg und Diskriminierung. Eine einzelne im Mittelmeer treibende Badelatsche erzählt Weißen jetzt nicht mehr angenehm eindeutig die harmlose Geschichte eines kleinen Ungeschicks und zu verschmerzenden finanziellen Verlustes, sondern potenziell von einem verlorenen, unersetzlichen Leben. Angesichts des Meeres öffnet sich für Menschen traditionell der Blick – wenn sie es zulassen, auch für politisch bewusst getrennte Realitäten: Gerät vom europäischen Land aus ein weißes Kind mit einem Schlauchboot aufs offene Meer, wird die örtliche Küstenwache ausnahmslos sofort zu seiner Rettung eilen. Alan Kurdi war ein schutzbedürftiges Kleinkind, nicht weiß und in der falschen Richtung unterwegs, deshalb – es ist notwendig, es so brutal kausal zu formulieren – ertrank er im Alter von zwei Jahren, nachdem das Schlauchboot, auf dem seine Familie nach Europa gelangen wollte, vor der türkischen Küste kenterte. Auch sein fünfjähriger Bruder Ghalib und seine Mutter Rehanna ertranken. Alan Kurdi durfte sein Leben nicht leben, weil Menschen aus Syrien nicht real genug für weiße Europäer*innen wirken, als dass endlich alles Nötige getan würde, damit die Fluchtwege sicher werden. Wenigstens ist die Geschichte von Alan Kurdi erzählt worden, sein Name wird von Vielen erinnert. Es ist aber wahrscheinlich, dass die dafür nötige Gefühlswärme-Investition von Weißen sich allein dem emotionalisierenden Bild des angeschwemmten toten Kindes verdankt und dabei keine grundsätzliche Aufhebung der Empathieblockade gegenüber BIPoC stattgefunden hat. Dafür spricht, dass bei einer Person, die als Subjekt und Mitmensch angesehen worden wäre, Medienverantwortliche – dazu gehören auch öffentlich postende Privatpersonen – intuitiv deren Persönlichkeitsrechte geachtet und kein erkennbares Bild gepostet und geteilt hätten. So aber ließen weiße Menschen Alan Kurdi auch noch symbolisch ins Meer fallen und ertrinken. 

Die deutliche Erinnerung von weißen Menschen an Alan Kurdi kann auch leicht davon ablenken, dass Zehntausende andere auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommene Menschen nur von ihren Angehörigen und Freund*innen erinnert werden, oft, ohne dass diese wissen, wann und wie ihre Liebsten gestorben sind. Für die Weißen vor den Medienscreens aber sind diese sehr vielen Toten namenlos, gesichtslos, nicht real. Repräsentiert werden sie nur endgültig depersonalisiert als Zahlen und Statistiken. Wer dies bezweifelt, muss sich nur vergegenwärtigen, dass Menschen beim Baden im Mittelmeer sich weiterhin eher bei der Vorstellung gruseln, Haien oder giftigen Fischen zu begegnen, als bei der, in einem Massengrab zu schwimmen.

Sich bewusst in die Unheimlichkeit zu begeben, das Mittelmeer als einen riesigen Friedhof der Namenlosen zu betrachten, kann für weiße Mitteleuropäer*innen eine gute Ausgangslage sein, um weitere verdrängte Ungerechtigkeiten aufzuspüren: Wurde Alan Kurdis Geschichte dafür missbraucht, sich selbst zu »beweisen« (beweißen?), dass  ja doch mit den Flüchtenden mitgefühlt wird, ja doch die Mittelmeertoten betrauert und ja doch »diese Menschen« auch als Menschen angesehen werden. ... Eine dunkle Erinnerung an die 1970er-Jahre in Westdeutschland steigt auf, damals durften singende »Lieblingsausländer*innen« weißer Deutscher im Fernsehen auftreten, aber bitte nur eine Person pro Land: die schöne Unregelmäßigkeit im rassistischen System. Ist Alan Kurdi – es klingt so schrecklich zynisch, ist aber eine sachliche Frage – der »Lieblingsmittelmeertote« weißer Mitteleuropäer*innen? Ist für sie nicht Alan Kurdis einzigartige Person und Geschichte bedeutend, sondern die Funktion, es mit dem Interesse für eine einzige von sehr vielen Personen und Geschichten »gut sein« zu lassen? Vieles deutet darauf hin, dass selbst die unleugbare physische Gegenwart von Millionen neu angekommenen BIPoC in Europa allein nicht ausreichte, um die Empathieblockade in der weißen Bevölkerung zu lösen, zumindest nicht umfassend und nicht sofort. Eher war ein umgekehrter Effekt festzustellen, denn Weiße adressierten nun oft Menschen, unabhängig von der Sachlage, nur aufgrund von deren Aussehen oder Namen als »Flüchtlinge«. 

Nicht oder weniger betroffen von der Empathieblockade gegenüber BIPoC waren in Mitteleuropa vermutlich nur Personen, die schon früher nicht exklusiv weiße nahe Menschen um sich hatten. Andere Menschen konnten ihre kulturell gelernte und gern mit »aufgeklärt« verbrämte Coolness erst im persönlichen Umgang mit Geflüchteten überwinden, wenn sich Bekanntschaften, machmal auch Zusammenarbeiten oder Freundschaften ergaben.

Der Eindruck, dass von einer grundsätzlich vorhandenen Empathie von weißen Europäer*innen für BIPoC besser nicht ausgegangen werden sollte, wird gestützt von Statistiken, die zeigen, dass Menschen vor allem in Regionen, in denen wenige Geflüchtete leben offen rassistisch sind und entsprechende Parteien wählen. Sie fürchten und hassen also nachweislich keine identifizierbaren Subjekte, sondern Figuren in ihrer Vorstellung. Aber auch die sich im persönlichen Umgang entwickelnden guten Beziehungen zwischen alten Europäer*innen und neuen Menschen in Europa waren am Anfang oft etwas bemüht und verkrampft, was nicht verwundert. Viele weiße Menschen mussten und müssen aufgrund tradierter Vorstellungen von notwendiger intellektueller Kälte erst lernen, menschliche Wärme auszuhalten: als Gebende und als Empfangende. Manchmal brauchen sie auch eine Weile, bis sie sich von der Rolle als White Savior verabschieden können, die nur so lange plausibel bleiben kann, wie Gegenüber objektifiziert werden.

Ab welchem Punkt Beziehungen zwischen Subjekten verlässlich solidarisch sind und BIPoC in Mitteleuropa, egal, ob sie her geflohen, konventionell eingewandert oder hier geboren sind, grundsätzlich nicht mehr befürchten müssen, sich bei einem Streit gleich wieder objektifiziert zu sehen, wird die Zeit zeigen. Es kann aber angenommen werden, dass es, sobald Menschen wirklich auf Augenhöhe kommunizieren, im guten Sinne kein Zurück mehr gibt.

Bestürzend ist, dass sich fast alles Beschriebene im Internet noch einmal verdoppelt und wiederholt hat. In der Rolle der weißen Mitteleuropäer*innen: weiße Mitteleuropäer*innen mit Jobs in klassischen Medien, in der Rolle der BIPoC: BIPoC und andere Marginalisierte, die sich in neuen, digitalen Medien und Formaten öffentlich äußern.

Die Ausgangslage in Zeiten vor Social Media war, dass sich Personen aus marginalisierten Gruppen keine großen Chancen ausrechnen durften, in einem deutschen Medienhaus zu arbeiten. Im bürgerlichen Feuilleton gibt es bis heute mehr Angestellte mit adeligen Namen als BIPoC. Im Netz aber entstanden im Laufe der Zeit viele Plattformen, Medien und Formate, die unterschiedlichsten Bedürfnissen auf Produzierenden- und Rezipierendenseite entgegenkamen. Im Prinzip ist heute jeder Mensch mit Internetzugang Publizierende*r, denn selbst ein Nichtteilen von Online-Inhalten stellt eine publizistische Entscheidung und kommunikative Handlung dar.

Seit der Antike ist es jedoch leider üblich, dass Vertreter*innen jeweils älterer Medien neue Medien als gesellschaftsgefährdend darstellen. Gleiches gilt für Stile und Töne. Die Gründe dafür sind sehr transparent, der persönliche Prestige- und Einkommensverlust wird gefürchtet. Die neuen Medien kleinzureden und ihre Nutzer*innen verächtlich zu machen, hinderte im aktuellen Fall die Kulturwächter*innen aber nicht daran, sich mit vollen Händen am Internet und den Menschen darin zu bedienen. Themen,Thesen, Konzepte wurden geklaut, und irgendwann nutzten dann auch alte Medienhäuser neue Technologien und Formate: Blogs, Videos, Instastorys, Lives … Was aber nicht geschah, ist, dass jemals Menschen in alten Medien Menschen im Netz dafür Credits gegeben hätten, dass sie etwas Gutes und Schönes erdacht, entwickelt, vorgemacht haben. Nur so ist zu erklären, dass bis heute in der etwas klassischeren Medienöffentlichkeit Menschen, die im Internet publizieren grundsätzlich als journalistisch oder literarisch weniger bedeutend wahrgenommen werden. Unfair genug, aber ist es ein Zufall, dass unter diesen Personen viele BIPoC sind? Ist es ein Zufall, dass man selbst die Erfolgreichsten unter ihnen fast nie einlädt, fest für ein klassisches Medium zu arbeiten? Ja, ab und zu eine freie Mitarbeit bei einem Themen-Feature ist drin, aber ein Angestelltenverhältnis nur in ganz seltenen Fällen. Einmal pro Jahr Spotlight muss genügen, den Rest der Zeit bleiben in bürgerlichen Redaktionen Weiße unter sich. Erinnert das nicht schon wieder frappierend an das »Lieblingsausländer*innen«-Schema? 

Nur in einigen sehr linken Medien, in deren Redaktionen normalisierte Kontakte zwischen Weißen und BIPoC längst bestehen, sieht es anders aus. Eine rein weiße Redaktion – nein, zwei unbezahlte BIPoC-Praktikant*innen sind nicht der Gegenbeweis – ist da bereits unvorstellbar geworden. Ausgerechnet aber in jenen bürgerlichen Medienhäusern, die sich traditionell als Speerspitze der Aufklärung betrachten, geht es peinlich unaufgeklärt zu, weil dort im Internet publizierende BIPoC wiederum ins Imaginäre verschoben worden sind. So gibt es im Digitalen erneut eine gesetzte und eine imaginisierte Welt, gleich bleibt, dass BIPoC dadurch der Subjektstatus aberkannt wird. Dieser Umstand ist sehr gefährlich, denn er plausibilisiert Faschist*innen, dass konservativere Medien im Grunde das Gleiche wollen wie sie: BIPoC verschwinden lassen, auf die eine oder andere Art. Es ist deshalb kein Zufall, dass Marginalisierte mit publizistischer Strahlkraft im Netz von Trollen ganz klassisch mit dem Tod bedroht werden. Hier haben klassische Medien-Entscheider*innen erhebliche Mitschuld auf sich geladen, das sollten sie wissen. Tragisch ist, dass ihre Unbehaglichkeit im Umgang mit BIPoC, die sie mehr zu fürchten scheinen als Unaufgeklärtheit, sich in der Praxis in kürzester Zeit verflüchtigen würde. Die allgemeine Arbeitssituation würde sich sogar verbessern: Keine gesellschaftlich repräsentativ besetzte Redaktion wird jemals einen Shitstorm erleben.

Weiße Mitteleuropäer*innen sagen neuerdings gern, dass wegen der Klimakatastrophe jetzt »alle in einem Boot sitzen« würden. Sie meinen damit, dass sich erstmals auch Personen, deren Lebensverhältnisse als gesichert bezeichnet werden können, von der Weltlage bedroht sehen. Aber selbst arme Menschen in Mitteleuropa sterben aktuell – außer in Einzelfällen, etwa bei einem Waldbrand – noch nicht wegen der Klimakatastrophe, in manchen Regionen der Welt aber sind es längst jedes Jahr Tausende. Es ist also etwas frivol, das so darzustellen. Positiv betrachtet klingt darin an, sich jetzt mit einer Art Weltgemeinschaft zu solidarisieren. Dies ist begrüßenswert, solange nicht davon ausgegangen wird, dass Weiße die progressivsten und bestimmenden Kräfte darin sein werden.

Zutreffend ist aber, dass für Weiße nicht nur die Figuren aus den Medienschauergeschichten über humanitäre Katastrophen aus den Meeren und Fernsehern gestiegen sind, sondern auch die Berichte selbst nicht mehr mit wohligem Schauer konsumiert werden können. Ja, die Flammen kommen näher, noch ist es nur unbehaglich und tut nicht weh. Den buchstäblichen und symbolischen Flammen, die noch nicht wehtun, korrespondiert eine neue innere Wärme. Es ist, als würde sich mental das Mischungsverhältnis von Ästhetik und Ethik ändern. Weiße Mitteleuropäer*innen beginnen, wieder etwas zu fühlen, leider aktuell wenig Angenehmes: Erschöpfung, Müdigkeit, Sorge, Wut, Verzweiflung. Aber ist das nicht alles schon besser als diese kühle Distanziertheit, die es ermöglichte, komplette Menschengruppen auszublenden? Was lässt sich mit diesem ungewohnten Fühlen anfangen? Ein Vorschlag wäre, die Problemlagen, die gerade erschöpft, müde, sorgenvoll, wütend, verzweifelt machen, in einem ersten Schritt zu identifizieren und genauer zu beobachten. Und sich dann irgendwann, nein, möglichst bald, zu fragen, welches Umsehen das zugehörige Herrenhaus einstürzen lassen kann.

Wenn Menschen – ja, auch Regierungspolitiker*innen! – sich wirklich grundsätzlich darüber einig sind, dass Menschenrechte nicht relativiert werden, brauchen einzelne Personen sich nur umzusehen und erkennen ganz viele Menschen, die neben ihnen in die gleiche Richtung gehen. Vielleicht nehmen Menschen einander irgendwann auch bei der Hand oder in den Arm. Das Haus des Herrn wäre dann außerhalb ihres Gesichtsfeldes längst eingestürzt.

 

Christiane Frohmann